November 24, 2021

Rollenspiel in den 70ern und heute


Der Begriff Rollenspiel geht auf die Anfänge von Dungeons&Dragons zurück. Doch was verstanden die frühen Spieler darunter? Stand das konsequente Spielen der Rollen im Vordergrund, oder legten sie mehr Wert auf Charakter-Optimierung? Und wie wichtig waren Regeln und Würfelergebnisse gegenüber einem frei erzählten Spiel? 

Der folgende Blogbeitrag wirft einen Blick auf die Anfänge des Rollenspiel-Hobbys.




Fan-Zines als Geburtshelfer des Rollenspiels


Das 1974 erschienene D&D gilt als erstes Rollenspiel. Sieht man sich die Originalausgabe von damals jedoch genau an, wird man feststellen, dass der Begriff Rollenspiel in keinem der drei Bände zu finden ist.

Der Untertitel von Dungeon&Dragons lautete "Rules for Fantastic Medieval Wargames Campaigns“ und verweist damit auf jene Tradition, aus der heraus D&D sich entwickelt hatte: Dem Kriegsspiel mit Miniaturen.

Der Begriff Rollenspiel setzte sich erst nach der Publikation des ersten D&D-Regelwerks durch. Was genau darunter zu verstehen ist und wie dieses Rollenspiel am Spieltisch umzusetzen sei, darüber diskutierte die Gamer-Community in den Fan-Zines der 70er und frühen 80er. Jon Peterson hat diese Debatten in seinem Buch The Elusive Shift untersucht. 

Gary Gygax war ein langjähriger Wargamer bevor er Dungeons&Dragons publizierte und auch die ersten Spieler kamen zum großen Teil aus der Wargaming-Community. Das ist wichtig, um die Debatte rund um D&D zu verstehen, wie sie sich in den Beiträgen und Leserkommentaren der damals noch sehr zahlreichen Print-Magazine entspann.

Es dauerte, bis sich das Verständnis von Spiel, wie die Community es aus Wargames kannte, zu etwas Neuem verschob, das uns heute unter dem Begriff Rollenspiel bekannt ist.

Vom "Modern War" zum Dungeon Crawl


Zahlreiche Elemente aus D&D waren Wargamern bereits bekannt. So wurde die Idee, wonach die Spieler nicht ganze Armee-Einheiten, sondern einzelne Figuren steuern, bereits bei Michael Korns' 1966 erschienenem „Modern War in Miniature“ umgesetzt. 

Bei diesem Kriegsspiel treten wie gewohnt zwei Spieler gegeneinander an. Allerdings haben die Spieler nicht, wie bei Wargames üblich, den gesamten Überblick über Anzahl und Stärke der eigenen und gegnerischen Einheiten. Vielmehr wissen sie nur, was die von ihnen gesteuerte Spielfigur in jedem Augenblick der Schlacht wissen kann.

Das ging so weit, dass Spieler auch über exakte Wirkung von Waffen oder Geschwindigkeit von Fahrzeugen nicht Bescheid wussten. Die Spieler beschrieben, welche Aktionen ihre Soldaten-Figur durchführte, der Spielleiter berechnete anhand (geheimer) Tabellen und Formeln den Ausgang.

Der folgende Dialog aus dem Regelwerk von "Modern War in Miniature" beschreibt ein Gefecht zwischen deutschen und US-amerikanischen Soldaten und zeigt, wie die Kommunikation zwischen Spielern und Spielleiter verlief:

Spielleiter (SL): "Eine Gewehrkugel trifft dich in die Seite. Ihr Aufprall hat dich tiefer in den Schützengraben gestoßen. Du blutest aus dem Mund. Du siehst, wer dich angeschossen hat. Der Amerikaner ist links von dir, etwa 12 Meter entfernt. Er läuft mit seinem Bajonett auf dich zu."
Spieler (S): "Kann ich mich bewegen?"
SL: "Ja, aber du bist fast bewusstlos."
S: "Ich drehe mich um und feuere meine Schmeisser auf ihn ab."
SL:" Er kommt rasch näher. Du verschießt deine Kugeln in einem weiten Bogen, als du dich umdrehst. 7 Meter, 4 Meter, 1 Meter, ich befürchte, du bist tot."

Im Hintergrund des Dialogs berechnete der SL den Schaden von Gewehr- und Pistolenkugeln, die Trefferchance und die Geschwindigkeit des US-Soldaten, der auf den Deutschen zustürmt. Eine Spielrunde entsprach dabei zwei Sekunden.

Das alles erinnert schon ziemlich stark an das, was Gygax acht Jahre später in seinem D&D-Regelwerk präsentierte. Doch anders als Korns' Regelwerk, das eine ganz gute Vorstellung davon liefert, wie das Spiel in der Praxis ablief, blieb Gygax bei seinen Regeln an vielen Stellen vage.

Vielmehr ermunterte er Spieler und Spielleiter aus dem gegebenen Regelgerüst zu machen, was ihnen beliebte: „... es sind Richtlinien, aus denen jeder seine eigene fantastisch-mittelalterliche Kampagne erschaffen kann", schrieb Gygax im Vorwort des ersten Bandes. "[Die Richtlinien] liefern den Rahmen, innerhalb dessen sich ein sehr einfaches oder enorm komplexes Spiel basteln lässt ...“

Spielleiter: Gegner der Spieler oder neutraler Schiedsrichter?


Das lose D&D-Regelwerk ließ viele Fragen offen. Ein Brennpunkt zahlreicher Debatten war der Spielleiter und dessen Rolle im Spiel. Denn anders als bei Wargames vermittelte er nicht zwischen zwei gegnerischen Parteien, sondern verwaltete die Gegner der Spieler, die gemeinsam und nicht gegeneinander antraten. Waren Spielleiter und Spieler daher Gegner? Und falls ja, wie hart durfte der Spielleiter bzw. wie nachgiebig musste er sein?

Was für uns heute klar scheint (der SL sollte möglichst neutral sein), wurde anfangs nicht immer so umgesetzt. Stevenson berichtet in seinem Buch "Elusive Shift" von Clubs in den USA, wo der Gamemaster bei D&D-Runden gegen die Spieler antrat. Viele GM brüsteten sich mit hohen Prozentsätzen an Todesfällen bei Spielerfiguren, die sich in ihre Dungeons wagten. Für die geplagten Spieler war es daher vielerorts üblich, NSC zu engagieren, die alle möglichen verdächtigen Knöpfe und Hebel drückten, um die Hauptcharaktere vor den tödlichen Fallen zu schützen.

Berühmt ist Gary Gygax' Tomb of Horrors, das er bei der ersten Origins Spielemesse 1975 in Colombo vorstellte. Das Abenteuer war ein Spießrutenlauf aus willkürlichen Fallen, einstürzenden Gewölben, Fallgruben, tödlichen Giftwolken und unvorhersehbaren Hinterhalten, wie Teilnehmer es beschreiben. Einer der Spieler soll frustriert über Gygax' Stil das Spiel als Dungeon-Roulette bezeichnet haben.

Story vs Regelwerk


Eine andere Frage, die die frühe Community umtrieb, war, wieviel Story und wie viel Regelwerk das Spiel brauchte.

Die einen wollten durch das Spiel eine Geschichte erleben, die möglichst nicht durch Regeln oder zu viel Würfelei aufgehalten werden sollte. Die anderen bevorzugten ein mehr strategisch ausgerichtetes Spiel, das nur möglich sei, wenn Spieler die Regeln kannten und Einsicht in die Stärken und Schwächen ihrer Spielfiguren hatten.

Es gab Spielrunden, bei denen der Spielleiter alle Würfe anstelle der Spieler durchführte (und die Ergebnisse für sich behielt). Das schloss auch die Verwaltung der Lebensenergie der Spielfiguren mit ein. Die Spieler verfügten daher ausschließlich über jene Informationen, über die auch deren Charaktere zum gegebenen Zeitpunkt verfügten (der Spieler wusste daher nur, dass seine Spielfigur sich schwach fühlt und viel Blut verliert, nicht aber, dass sie nur mehr 3 Lebenspunkte besitzt).

Das Gegenteil davon waren jene Spieler, die D&D in der Tradition von Wargames als Simulation spielten. Sie kannten nicht nur die Würfelmechanismen im Detail und wussten zu jeder Zeit über die Werte ihrer Figuren Bescheid, sondern auch über jene ihrer Gegner, inklusive deren Lebenspunkte und magische Eigenschaften. Ihr Argument war, dass nur durch Einsicht in Regeln und Würfelmechanismen Risiken für die Spieler abschätzbar seien und im Sinne eines strategischen Spiels sinnvolle Entscheidungen getroffen werden können.

Das D&D Regelwerk ließe beide Zugänge zu. Bis heute sind diese Richtungen im Hobby vertreten. 

Neue (alte) Fragen


1977 tauchte der Begriff Rollenspiel schließlich im (etwas sperrigen) Titel des neuen Dungeons&Dragons Basic Set auf: Rules for Fantastical Medieval Role Playing Adventure Game Campaign.

Das neue Regelwerk brachte mehr Klarheit und füllte einige der Lücken aus der ersten Version von D&D. Im Laufe der Jahre etablierte sich der Spielleiter als neutraler Moderator, ging die Sterblichkeit in den Dungeons deutlich zurück; die Gegner wurden den Stufen der Spielfiguren angepasst, womit auch die NSC an Bedeutung verloren (Ein Gegensteuern zu diesem Trend erlebt die Szene seit Mitte der 0er Jahre mit dem Aufkommen der OSR).

Zahlreiche der heute im Hobby neu diskutierten Fragen sind eigentlich sehr alte, die seit Beginn des Hobbys immer wieder neu gestellt werden: Wie autoritär darf/soll der Spielleiter sein? Wie viel SL braucht ein Spiel überhaupt? Soll mehr Wert auf Würfelei und Werte-Optimierung, oder auf Rollenspiel gelegt werden? Geht's auch ganz ohne Würfel? 

Endgültig zu klären werden diese und ähnliche Fragen nie sein. Vielmehr wird sie jede Spielergeneration für sich beantworten müssen. Und das ist gut so. Denn genau diese Unschärfe, wie sie seit dem ersten D&D-Regelwerk von Gary Gygax existiert, ist Kern der Kreativität des Hobbys.


2 Kommentare:

  1. Der Findungsprozess der Eigenbezeichnung "Rollenspiel" ist wirklich sehr interessant und wird m. E. zu wenig betrachtet. Steve Jackson (UK) äußerte mal die Vermutung, dass er den Begriff (also die englische Form "role-playing") möglicherweise als Gattungsbezeichnung für D&D und Konsorten populär machte, als er ihn in Games Workshops damaligem Newsletter "Owl and Weasel" verwendete. Das dürfte so 1975 oder 1976 gewesen sein. Eine Theorie wäre also, dass Mitte der Siebziger zunächst die britischen Rollenspieler für ihr Hobby den Begriff "role-playing" adoptierten, und dieser sich dann schnell durch den regen Austausch mit der US-Szene und TSR selbst auf der anderen Seite des Atlantik etabliert hat.

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